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Gedankenraum 2 - Abschiede gestalten.

Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.
Wer hat uns also umgedreht, daß wir,
was wir auch tun, in jener Haltung sind
von einem, welcher fortgeht? Wie er auf
dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal
noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt –,
so leben wir und nehmen immer Abschied.

Rainer M. Rilke

 

Dr. Alexander Bischkopf ist Historiker und Referent für Weltanschauung im Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg.

 

Abschied – kaum ein Begriff steht in unserer Kultur mehr für Verlust und Trauer. Schon das Wort umweht ein schwarzer Flor; und meist schwingt ein gutes Stück Ohnmacht mit. Man fühlt sich den äußeren Umständen ausgeliefert. Bedeutet Leben nicht ein ständiges Abschiednehmen, oft unbemerkt, meist ungewollt, von Zeit zu Zeit nahezu überwältigend?

Dabei ist der Begriff von seiner Wortbedeutung her vielschichtig und kann je nach Zusammenhang negativen, neutralen oder sogar positiven Sinn annehmen. Abschied kommt von "abscheiden", was neben dem selteneren Gebrauch als "sterben" auch "ausscheiden" und "abtrennen" meint. Auf eine Trennung bezogen kann ein Abschied positiv sein, wenn er die Befreiung aus einer einengenden, vielleicht konfliktreichen Beziehung bedeutet.

Abschiede zugunsten persönlicher Entwicklung oder Befreiung werden aber meist anders erzählt. Das Wort Abschied wird gar nicht benutzt. Warum ist das so? Warum verabschieden wir uns nicht von unseren schlechten Gewohnheiten, wenn wir uns ändern wollen: "Liebes Rauchen, es war schön, aber unsere Beziehung tut mir nicht gut – es muss sich was ändern! Lebewohl!"

Ist es Angst? Schließlich steht das Wort Abschied für das schlimmste, was einem Menschen passieren kann: ein Abbruch, nach dem keine Beziehung mehr gelebt werden kann. Manchmal für immer.

Abschiede widerfahren uns, wir werden zur Passivität gezwungen. Etwas geschieht uns ungewollt und wir verlieren etwas, manchmal unwiederbringlich. Viel lieber erleben wir ein Ereignis als Entwicklung und Befreiung – das Ich war aktiv und erfolgreich.

In dieser widersprüchlichen Bildsprache gibt es jedoch einen roten Faden. Eine Veränderung wird beschrieben, die meist unumkehrbar ist. Die Ambivalenz des Abschieds schlägt sich auch in unserer Feierkultur nieder.  Bei Schulabschlussfeiern, humanistischen Jugendfeiern und religiösen Feste wie Bar/Bat Mitzwa oder Konfirmation einerseits, und bei Abschiedsfeiern zum Berufsende oder Trauerfeiern andererseits finden die gemischten Gefühle Ausdruck.

Die Gegenüberstellung macht aber auch Unterschiede deutlich: die Feiern am Anfang der Lebensspanne sind von Wachstum, Erweiterung an Möglichkeiten, an Freiheit und Verantwortung, von einem Mehr an Leben geprägt. Dies ändert sich mit Feierlichkeiten, die später im Leben stattfinden. Diese Feiern bilden auch unser Altern ab. Bewusste Abschiede sind damit auch einschneidende Wegmarken unseres Alterns.

Während sich bei allen Feiern die Beziehungsebenen wandeln dürfen und sollen, fällt die Trauerfeier als Sonderfall heraus: Hier enden Beziehungen unwiderruflich. Ein Wandel von Beziehungen betrifft nur die Hinterbliebenen.

Ritualisierte Feiern sind Kulturformen, um in Gemeinschaft individuelle Veränderung zu zelebrieren und damit zu würdigen. Sie sind vom Menschen geschaffene Anlässe, die dazu dienen innezuhalten um dem Wandel Raum zu geben. Diese Rituale können helfen, sich Veränderung bewusst zu machen und wert zu schätzen – besonders bei Lebensereignissen, die alle Menschen teilen.

Dafür, dass uns Wandel und Veränderung als Konstante immer im Gedächtnis bleiben, sorgt der jährliche Feiertagskalender. Kollektiv feiern wir im Jahreskreis zu Silvester den Jahreswechsel und auf individueller Ebene den Geburtstag. Sie sind ritualisierte Anlässe zum Innehalten, Zurückblicken und Zukunftspläne schmieden. In ihnen werden Abschiede in einen bewussten Zusammenhang mit Neuem, mit Entwicklungsmöglichkeiten gebracht. Zweimal im Jahr nehmen wir bewusst diese Perspektive ein.

Auch abseits großer, kollektiv begangener Feierlichkeiten im gelebten Alltag ist ein überlegter Umgang mit Abschieden sinnvoll. Denn auch im Privaten – im scheinbar "Kleinen" – sind die Funktionen, die Abschiedsrituale übernehmen, wichtig. Sie erlauben uns das Innehalten, Verarbeiten, Ordnen und Orientieren, um Veränderung bewusst gestalten zu können.

Warum also nicht auch allein oder im Kreis enger Freunde Abschiede und Veränderungen würdigen? Vielleicht ein zweites Mal Silvester feiern? Oder ganz eigene Formen gestalten? Dazu müssen keine festen oder komplizierten Rituale entwickelt werden. Wichtig ist nur, dass die kleine Feier vom Alltagstrott abweicht und eine Unterbrechung deutlich und spürbar wird. Sich bewusst Zeit nehmen für mehr Aufmerksamkeit für Veränderung. Die meisten Abschiede fallen uns gar nicht auf, da sie ungeplant und vor allem unbemerkt erfolgen. Erst später, im Nachhinein fällt dann auf, dass dieses oder jenes ein letztes Mal gewesen ist.

Das wird auch so bleiben, denn wir können nicht in die Zukunft schauen. Aber ist nicht schon viel erreicht, wenn wir weniger überrascht werden, weniger ad hoc entscheiden müssen – und dafür mehr Zeit haben für die Bewertung von Situationen und Handlungsoptionen wie sie unseren Bedürfnissen entsprechen. Mehr Zeit zur Reflexion darüber, was ich wirklich will, was mir gut tut ohne dabei meine Mitmenschen aus den Augen zu verlieren?

Wenn wir von der Kunst des Abschiednehmens sprechen, meinen wir also die Kunst Veränderung (mit-)gestalten zu können, was für uns als endliche Wesen immer auch die Kunst des Alterns bedeutet. Das bedeutet nicht nur immer besser mit Veränderung schritthalten zu können. Das wäre zu passiv, zu duldsam. Ziel ist es vor allem nicht überwältigt zu werden, nicht getrieben und dadurch handlungsunfähig zu werden. Im besten Fall hilft diese Kunstfertigkeit dabei, offen für Neues zu bleiben, vorausschauend Möglichkeiten erkennen zu können, um das eigene Handeln zu gestalten. Denn Veränderungen geschehen so oder so. Beziehungen wandeln sich, auch wenn es ungewollt oder fremdbestimmt geschieht.

Lebenskunst ist es, die Möglichkeiten, die ein Abschied – freiwillig oder unfreiwillig – bietet, zu erkennen, zuzulassen und schließlich nutzen zu können. Das bedeutet, Trauer nicht wortlos hinter sich lassen und damit verdrängen zu müssen. Es bedeutet vielmehr zu akzeptieren, dass Trauer immer ein Teil des Lebens bleiben wird und darf.

 

 

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Dr. Alexander Bischkopf
Referent für Weltanschauung
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