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Veranstaltungsbericht zur Tagung "Humanismus in, Mitgliedschaft out?"

 (c) Sahand Babali
(c) Sahand Babali

"Humanismus in, Mitgliedschaft out? Wie bestimmt sich Zugehörigkeit im säkularen Spektrum Berlins?" 

Eine Tagung des Berliner Dialogs der Weltanschauungen 

Mehr als 30 Gäste diskutierten am 30.9 und 1.10.2022 im Berliner Haus des Humanismus über eine für humanistische und säkulare Organisationen zentrale Fragestellung: Mit welchen Kriterien lässt sich heute Zugehörigkeit zum weltanschaulichen Humanismus wissenschaftlich solide bestimmen? Und wie lässt sich diese Gruppe innerhalb des weiten Feldes der Konfessionsfreien quantifizieren?  Wissenschaftler*innen der Universität Leipzig stellten erste Ergebnisse eines noch laufenden Forschungsprojektes vor.    

Bekanntermaßen sind Mitgliederzahlen von humanistischen und säkularen Organisationen kein angemessenes Kriterium, um die gesellschaftliche und politische Relevanz des weltanschaulichen Humanismus in Deutschland zu beurteilen. Die meisten engagierten und bekennenden Humanist*innen bringen ihre Zugehörigkeit nicht primär durch formelle Mitgliedschaft sondern durch ihre Praxis und ihre Anschauungen zum Ausdruck. Das Thema ist gesellschaftspolitisch brisant. Noch immer wird humanistischen Organisationen von Politik und Verwaltung oftmals die grundgesetzlich gebotene Gleichbehandlung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften verweigert. Dies geschieht mit dem Hinweis auf im Vergleich zu den Kirchen niedrigen Mitgliederzahlen. Dabei ist die Gleichbehandlung des Islam – zu Recht – eine Selbstverständlichkeit, obgleich nur ein ganz geringer Bruchteil der Muslime in Deutschland, Mitglied in einem muslimischen Verband oder Moscheeverein ist. Hintergrund all dessen ist ein deutsches Religionsrecht, das sich allein am kirchlichen Mitgliedschaftsmodell orientiert, das ganz gewiss in die Jahre gekommen ist und dringend einer Reformierung bedarf.

Wie aber lässt sich Zugehörigkeit alternativ bestimmen? Der Politologe und Journalist Carsten Frerk von der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) gab in seinem Eröffnungsvortrag einen beeindruckenden Rückblick auf annähernd 20 Jahre empirischer Erhebung von Daten und Fakten zur Entkirchlichung und Säkularisierung der deutschen Gesellschaft: Nicht nur die Zahl der Konfessionsfreien in Deutschland steige kontinuierlich (2021: 42%) und werde in absehbarer Zeit die Zahl der Kirchenmitglieder übersteigen, sondern auch die mehrheitliche Zustimmung zu einer humanistischen Lebensauffassung (z.B. „Ich führe ein religionsfreies Leben nach ethischen Grundsätzen“) sei seit Jahren in Umfragen stabil. Meinungsumfragen zu Wertvorstellungen und Überzeugungen sind demnach ein wichtiges Kriterium zur Bestimmung der Zugehörigkeit zum weltanschaulichen Humanismus. Mit Blick auf die europaweit angelegten Arbeiten der Sinnforscherin und Psychologin Tatjana Schnell wies Frerk auf die Heterogenität im Feld der Konfessionsfreien hin, die Anreiz sein dürfte für weitere zukünftige Forschungen.

Die Religionswissenschaftlerin Anja Kirsch fragte, ob es ein gemeinsames humanistisches Narrativ gebe und antwortete differenziert. Von einer „Meistererzählung“ könne hier wohl keine Rede sein, eher von Variationen und Vielstimmigkeit. Sie akzentuierte aber Humanismus als Erzählkultur und hob formale Aspekte hervor: Neben der Bezugnahme auf Wissenschaft gehöre es wesentlich zum Humanismus, erzählen und miterzählen als Akte gemeinsamer Praxis zu verstehen, die Zugehörigkeit bestätigen und stiften. In der Diskussion mit dem Publikum entbrannte an dem von einem Gast eingebrachten Thema der „humanistischen Seelsorge“ dann aber doch auch Kontroverse zu Inhalten eines humanistischen Narratives: Gehört „Seelsorge“ dazu oder nicht? Kirsch verneinte die Frage klar, ließ aber die Möglichkeit einer humanistischen Kontextualisierung von „Seelsorge“ durchaus offen.

Horst Junginger, Professor für Religionswissenschaft an der Leipziger Universität, unternahm einen Ausflug in die Religionsgeschichte und zeigte, dass Kirchenmitgliedschaft historisch betrachtet eine Anomalie ist, Entkirchlichung hingegen die Rückkehr zur Normalität. Aus Sicht der Religionswissenschaft sei Mitgliedschaft nicht relevant für die Bestimmung von Zugehörigkeit. Diese bestimme sich vielmehr durch Soziabilität, durch die soziale und emotionale Verankerung in einer Gemeinschaft. Damit war ein durchaus gegenläufiger Akzent zum vorab diskutierten Kriterium „Zustimmung zu humanistischen Überzeugungen oder Narrativen“ gesetzt. Denn damit überschätze man, so Junginger, die Bedeutung von kognitiven weltanschaulichen Gehalten gegenüber nicht-kognitiven, prädezisionalen (und gelegentlich auch irrationalen) Beziehungskriterien. Humanistische Verbände sollten weiterhin und verstärkt neue Formen sozialer Vergemeinschaftung anbieten. Dies sei so wichtig wie ambitioniert, weil der ökonomische Druck gesellschaftlich schwer auf den Individuen laste und die Realisierung intensiver sozialer Beziehungen vielfach erschwere.

Wenn aber Soziabilität als Zugehörigkeitskriterium entscheidend ist, lässt sich dann genauer eine gemeinsame Praxis von Humanist*innen bestimmen? Die Religionswissenschaftlerin Katharina Neef ging von gängigen Typen religiöser Praxis aus und fragte, ob diese auch im Humanismus vorfindlich sind. Kollektive Rituale gebe es durchaus im Vereinsleben humanistischer Organisationen, vielfältige Versammlungen und Aktivitäten, nicht zuletzt auch die spezifische Vortrags- und Debattenkultur. Auch eine eigenständige Feierkultur mit z.B. Namens- oder Jugendfeiern sei auszumachen, Ansätze zur Entwicklung alternativer jahreszeitlicher Feste (z.B. Feier der Wintersonnenwende) erkennbar. Bei der Frage nach individuellen Rituale oder spezifischen Routinen musste Neef passen. Kritisch merkte sie zudem an, dass die Formen eines Teils der kollektiven Rituale nach wie vor sehr bürgerlich-männlich geprägt seien. Deutlich wurde durch ihren Vortrag, dass sich Typen religiöser Praxis nicht einfach auf die humanistischen Praxen anwenden lassen, sondern hier eine eigene Typologie zu entwickeln wäre. Zumal auch Neef bestätigte, dass Mitgliedschaft als rein formalistisches Kriterium mit zudem exkludierenden Effekten kaum Relevanz hat im Vergleich mit praktisch-partizipativen, emotional-sympathetischen und anlassspezifischen Formen von Zugehörigkeit.   

Die Wissenschaftler*innen Leonie Wohlfart und Thilo Rother führen im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Leipzig Interviews mit Aktivist*innen humanistischer und säkularer Organisationen in Berlin. Den Gästen der Tagung stellten sie erste Ergebnisse vor und zogen in ihrem Vortrag „Bist du Mitglied beim HVD? – Ich glaube ja,“ ein Zwischenfazit: Für die Befragten bestimmt sich Zugehörigkeit nicht durch Mitgliedschaft, sondern durch a) gemeinsame Wertvorstellungen, durch b) gemeinsame, zumeist projekt- bzw.  themen-bezogene Praxis und c) durch Freundschaften, die sich entwickelt haben. Als Werte werden vor allem genannt: Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit, Wertschätzung des Menschen als Individuum, Diversität, tieferes Verstehen des anderen. Die Befragten grenzten sich wenig in expliziter Form von Religion ab und kämen schlichtweg ohne transzendente Erklärungen und Themen aus. Wohlfart und Rother berichteten auch von ihrem Eindruck, dass es anscheinend „hypothetische Humanist*innen“ gibt: Menschen, die sich „humanistisch“ engagieren und zu „humanistischen“ Werten bekennen, ohne dass jedoch selbst als „humanistisch“ zu bezeichnen.  

In den Debatten wurde von einigen Gästen kritisch auf die bislang noch schmale empirische Basis der vorgestellten Untersuchung hingewiesen. Das Forscher*innenteam bestätigte, dass in diesem Projekt noch weitere Interviews geführt werden und auch zukünftige zusätzliche Ausweitungen des Samples sowie die Hinzunahme von quantitativen Forschungen wichtig und notwendig sei. Vielleicht aber gab es auch ein Missverständnis in Bezug auf die qualitative Forschungsmethodik: Hier wird ja nicht umstandslos von einem Sample auf alle geschlossen, sondern es werden Aussagen zu diesem Sample gemacht. Nachfragen zu Details aus den Interviews gab es aber erstaunlich wenig.

Andere Gäste ergriffen beherzt die Gelegenheit, sich angesichts der vielen Religionswissenschaftler*innen im Programm der Tagung einmal näher über den Sinn und die Aufgaben der Religionswissenschaft zu informieren. Es wurde z.B. kritisch der Einwand erhoben, das sei doch sei nichts Anderes als Theologie. Die anwesenden Mitglieder der Zunft machten deutlich, dass sie nicht vor einem Glaubenshintergrund forschen würden, sondern Religion als wissenschaftlichen Gegenstand untersuchen wie z.B. auch die Politikwissenschaften die Politik beforschen. Es werde in ihren Reihen bewusst auf den Singular „Religionswissenschaft“ beharrt, weil von Seiten der Theologien gerne im Plural von „Religionswissenschaften“ gesprochen werde, um sich selbst dort auch fälschlicherweise einzureihen. Religionswissenschaft sei nicht affirmativ gegenüber Religionen, die meisten Religionswissenschaftler seien eher religionskritisch eingestellt.

Daraufhin wurden dann aber andersherum Stimmen aus dem Publikum laut, die mit Hinweisen auf „Sekten“ oder die Kindesmissbräuche in der katholischen Kirche die Angemessenheit wissenschaftlicher Neutralität in Sachen Religion in Frage stellten. Die Antwort war hier, dass Religionswissenschaft sehr wohl problematische Potentiale oder reale Verwerfungen von Religionen untersuchen kann und dies auch macht. Insbesondere für die beiden jungen Forscher*innen dürfte es eine interessante Erfahrung gewesen sein, von Akteur*innen aus einem von ihnen beforschten Feld mit weltanschaulichen Ansprüchen an die eigene Forschung konfrontiert zu werden.

Das vielseitig interessierte und aktive Publikum brachte an den beiden Tagen noch weitere spannende Themen ein: Vom Säkularismus in Mexiko und der aktuellen Situation im Iran über den „Kipppunkt“ der Kirchenmitgliedschaft in Deutschland bis hin zur Problematisierung von – vermeintlichen oder wirklichen – unwissenschaftlich-irrationalen Elementen im „Wokismus“. Was die Fragestellung der Tagung anbelangt, so wurde deutlich, dass das vorgestellte Forschungsprojekt nur ein Auftakt sein kann: Mitgliedschaft ist zwar nicht völlig „out“ oder gänzlich unbedeutend für humanistische Organisationen, aber sie sagt doch nichts aus über deren gesellschaftliche Relevanz, denn Humanismus ist offensichtlich „in“, auch wenn für seine gründliche qualitative und quantitative Erfassung noch einiges zu tun ist.

Am Ende der Tagung wurde aus dem Publikum auf das von Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg KdöR initiierte Netzwerk der „Freund*innen des Humanismus“ hingewiesen. Dies ist ein die Mitgliedschaft integrierendes, aber zugleich deutlich darüber hinaus gehendes Konzept von Zugehörigkeit. Hier können sich alle anschließen, die als Mitglieder, Fördermitglieder, Spender*innen, ehrenamtlich Engagierte oder Netzwerkpartner*innen gesellschaftliche Verantwortung übernehmen wollen, um eine freiheitliche und solidarische Kultur zu stärken. Vielleicht ist dies eine Form von Zugehörigkeit, die erlebte Sozialität ermöglicht auch in Zeiten, in denen Menschen formalen Mitgliedschaften wenig Bedeutung beimessen.

 

Ralf Schöppner

Die Tagung im Rahmen des Berliner Dialogs der Weltanschauungen wurde gefördert von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Beteiligte Organisationen waren der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg KdöR, die Evolutionären Humanisten Berlin-Brandenburg, die Gruppe Säkularer Humanismus an Berliner Hochschulen, die Humanismus-Stiftung, die Säkulare Flüchtlingshilfe Berlin und die Humanistische Akademie Berlin-Brandenburg.