Ein Jahr beginnt im Lockdown. Wenn die Zukunft entsprechend beängstigend ist und man nicht weiß, wie es weitergeht: Was tun? Mal wieder in den Gottesdienst gehen, legen die einen nahe. Den Menschen dürfe Trost und spirituelle Begleitung in dieser Zeit nicht vorenthalten werden, so war Ende des Jahres zu hören. Auch mitten in einer Pandemie. Hygienekonzepte würden ja vorgehalten, so versicherte man uns allenthalben reflexartig.
Schade, dass man mich nicht gefragt hat, wo ich meinen Trost und meine Kraft finde. Dann hätte ich gerne geantwortet: lesend, schauend, staunend, Beziehungen pflegend, in Kinos, Kneipen, Cafés und Theatern. Die haben übrigens auch Hygienekonzepte, mussten aber trotzdem zumachen. Aus Vernunftgründen.
Mein Lieblingscafé bleibt also geschlossen. Ich kann nicht wegfahren und keinen Winterurlaub machen. Allerdings hat die Sache auch ein Gutes. Und das hat auch mit "spiritueller Begleitung" zu tun: solcher, die man in Büchern findet.
Ich muss nämlich nicht überlegen, welche von diesen literarischen Mutmachern ich in die Ferien mitgenommen hätte, ohne dass ich mir am Koffer einen Bruch hebe. Stattdessen betrachte ich mein Bücherregal und erinnere mich daran, dass die Faszination, die Bücher auf mich ausüben, nicht an Orte gebunden ist. Was geht, auch im Lockdown, ist: Das Lesen so richtig zu zelebrieren. Es mir gemütlich machen zwischen den Jahren mit Tee auf dem Tablett und Tucholsky in der Tasche. Das wird guttun in diesen schwierigen Zeiten.
Franz Kafka schrieb einst, ein Buch müsse "die Axt sein für das gefrorene Meer in uns". Wer liest, sei niemals allein, meinte Elke Heidenreich. Und Silke Heimes, Ärztin und Poesietherapeutin, weist darauf hin, dass Bücher trösten, Gesellschaft bieten und zugleich Rückzugsraum sein können. Denn sie haben Vorbildfunktion und Identifikationspotential, entführen die Leser_innen in fremde Welten und lassen uns bei uns selbst ankommen. Zudem gibt geeignete Literatur Halt und Orientierung in einer komplexen Welt und ermöglicht es, innerlich zur Ruhe zu kommen. In England, so berichtet Heimes, könne man sich sogar vom Arzt Bücher gegen Depressionen verschreiben lassen und das Rezept in der Stadtbibliothek einlösen. Der wunderbare Erich Kästner wusste augenscheinlich, was er tat, als er sich an einer "Lyrischen Hausapotheke" versuchte, in der man zu den von A bis Z beschriebenen Leiden jeweils ein passendes Gedicht findet, das Linderung verspricht.
Kaum zu ertragende und anhaltende psychische Krisen brauchen zwar professionelle medizinische oder psychotherapeutische Abklärung und Hilfe. Für viele aber kann die kleine Flucht in literarische Welten eine echte Hilfe sein, wenn es darum geht, die eigenen Kräfte zu bündeln und Zuversicht zu entwickeln. Um es mit Maxim Gorki zu sagen:
"Liebt das Buch. Es wird euch freundschaftlich helfen, sich im stürmischen Wirrwarr der Gedanken, Gefühle und Ereignisse zurechtzufinden."
Ich selbst freue mich unter anderem – getreu dem Motto "Humor ist, wenn man trotzdem lacht" – an der erfrischenden und komischen Lyrik von Robert Gernhardt. Wer für sich andere, neue Anregungen für nährende Lockdown-Literaturstunden braucht, dem sei - wie sollte es anders sein – ein Buch empfohlen: gute Lektüre-Anregungen für viele Lebenslagen bieten Ella Berthoud und Susan Elderkin, Die Romantherapie. 253 Bücher für ein besseres Leben, erschienen im Insel-Verlag.