Aktuell auf humanistisch.de

  • Foto: Renate von Mangoldt, 1990
    Foto: Renate von Mangoldt, 1990

Uwe-Johnson-Preis 1999 geht an Gert Neumann für seinen Roman "Anschlag"

Begründung der Jury

Mit dem Roman "Anschlag" wird ein Werk ausgezeichnet, das für den deutschen Ost-West-Dialog einen unerwartet poetischen Horizont eröffnet. Das Thema "Widerstand" erscheint als Gleichnis auf eine neue Kultur, sich der Macht zu entziehen. Die Defizite in der Verständigung zwischen den Gesprächspartnern aus der ehemaligen DDR und Westdeutschland werden in einem fein gezeichneten erzählerischen Panorama entfaltet.

Auf dem Hintergrund des Lenné-Parks von Chorin ist Schweigen ebenso Bestandteil der Kommunikation wie die Beschreibung von Gestik, Kleidung, Natur, Landschaft und die Geschichte des Ortes. Gert Neumann gibt – wie Uwe Johnson – durch die Eigenart seiner Erzählsprache den Blick auf eine Realität frei, die ohne Literatur nicht zu besichtigen ist.

Aus der Dankesrede von Gert Neumann zum Uwe-Johnson-Preis

"(…) Klar ist für mich bisher, das Wer Uwe Johnsons ist in meiner Lesart zu einem tropischen Ausdruck einer Ehrfurcht geworden, mit der Uwe Johnson in der Sprache angesehen ward. Ich sehe beim Lesen von Uwe Johnson Uwe Johnson verzweifelt; und es braucht meiner Meinung nach ungeheuer geprüfte Liebe zum Menschen und der zu ihm gehörenden Literatur, diese in der Geschichte der Philosophie literarisch sich also aufrichtende Verzweiflung tatsächlich als tropischen Ausdruck zu erkennen.(…) Uwe Johnson hat zweifellos mit dieser in Deutschland nötigen literarischen Arbeit begonnen. Die Arbeit heißt Gespräch. Das Gespräch ist der Schutz der Möglichkeiten der Menschen; und Uwe Johnson ist ein Dichter in diesen Angelegenheiten; die aus der Sackgasse zu holen ist und war, wohin  Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg geraten war. (…)."

Zum Buch

Für Gert Neumann ist nach dem Ende der DDR die Zeit gekommen, sich vom Eindruck erlittener Demütigungen zu befreien. Dieser radikale Schriftsteller fragt: Wer sind wir eigentlich?

Zu wahrer Verständigung verhilft ihm, was er Gedächtniskunst nennt, "die sich für die Bergung der unendlichen Bemühungen des Menschen im Gewesenen verantwortlich fühlt." Den Unterlassungen der Erinnerung gilt sein Anschlag. Gert Neumann möchte hinter die Erscheinungen kommen, die die Diktatur zur Bestimmung der Lesart der Dinge hinterlassen hat. Sein Anschlag markiert den Beginn dieser Auseinandersetzung. Er sucht nach einem Zwiegespräch, das noch nicht stattgefunden hat; und er erzählt von einem Spaziergang und einer Begegnung auf dem Weg zum berühmten Kloster Chorin.

In der Sprache, die das Gespräch möglich macht, will Gert Neumann die Wahrheit über den vergangenen Staat herausfinden, der sich für sein Schicksal verantwortlich glaubte. Gert Neumann erzählt von der Suche seines Herauskommens aus dem Erzählen vom Osten, vor dem sich der Westen bloß stumm zu fürchten scheint.

Zum Autor

Gert Neumann wurde am 2. Juli 1942 in Heilsberg/Ostpreußen geboren. Sein Vater Helmut Neumann fiel in den letzten Kriegstagen. Mit seiner Mutter, der späteren Schriftstellerin Margarete Neumann, kam der Vierjährige als Kriegsflüchtling nach Mecklenburg und lebte bis 1949 in Cosa bei Friedland. Seine Kindheit verbrachte er in Halle/Saale sowie in Hohenneuendorf bei Berlin. Ausbildung als Traktorist, 1960 freiwilliger Dienst in der Nationalen Volksarmee. 1962 Umzug nach Neubrandenburg, zweite Berufsausbildung als Schlosser.

Erste Schreibversuche und Mitarbeit im Arbeitertheater der Neubrandenburger Bau-Union. 1967 Immatrikulation am Leipziger Literaturinstitut. 1969 Relegation, Streichung der SED-Mitgliedschaft und Ausschluß aus dem DDR-Schriftstellerverband. Lebte bis 1990 als Autor in Leipzig. Gert Neumann wohnt heute in Berlin und ist zum dritten Mal verheiratet.

Veröffentlichungen u.a.: "Die Schuld der Worte" (1979), "Elf Uhr" (1981), "Die Klandestinität der Kesselreiniger" (1989), "Anschlag" (1999). 1983 erhielt Neumann den Literaturpreis der Akademie der Künste Westberlin und 1992 die Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung.